Palataalidissimilaation kätkemiä balttilaislainoja

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  • Santeri Junttila

DOI:

https://doi.org/10.33341/uh.148316

Abstrakti

Durch palatale Dissimilation verschleierte baltische Lehnwörter
Die ins Urfinnische entlehnten baltischen Wörter haben in den ostseefinnischen Sprachen einige alte Züge bewahrt, die sogar das altertümliche Litauische verloren hat. Diese werden hier um eine Vokalvertretung ergänzt: in den ostseefinnischen Baltismen ist das urbaltoslawische *i erhalten (o. mit *e substituiert worden), das in gewissen Wortsippen im Ostbaltischen zu *u, und weiter in gewissen Formengruppen durch die ostbaltische Dehnstufe zu * o. * geworden ist.
Zinkevǐčius (1966: 67–68) beschreibtt den Wandel i > u in den litauischen Mundarten. In den meisten von ihm präsentierten Fällen folgt der Vokal einem postalveolaren Zischlaut š, ž oder č. Vor i sind die Konsonanten immer palatalisiert, und diese Palatalisierung ist während dem Vokalwandel bewahrt. Urbutis (1982: 125–126) erwähnt weitere Fälle, die nahezu alle nach š, ž oder č auftreten. Smoczyński (2022) nimmt an, dass dieser Wandel mindestens bei einem Wortstamm, žir- ~ žiur-, allgemeinlitauisch auftritt. Er definiert ihn als eine palatale Dissimilation C´i > C´u. Den lit. Formen žiur- [ž́ur-] u. žiūr- [ž́ūr-] entsprechen im Lettischen žur- (< *ž́ur-) u. žūr- (< *ž́ur-), was zeigt, dass die Dissimilation wahrscheinlich urostbaltisch war. Der Unterschied zwischen den *ž́ī̆r- und *ž́ū̆r-Formen war vielleicht am Anfang rein regional, aber danach haben die beiden sich auf denselben Gebieten verbreitet und in verschiedenen Bedeutungen eingebürgert. Dagegen fehlte die Dissimilation in der Ausgangssprache der ostseefinnischen Baltismen, dem sogenannten Nordbaltischen, wo *i meistens erhalten, vor Liquida aber oft zu *ẹ gewandelt wurde.
Das inchoative lit. ‌žiùrti ~ ‌žiū̃rti : žiùrsta ~ žiūra : žiùro ‚zu sehen beginnen‘ gehört zu žìrti : žỹra (< *ži-n-ra) : žìro ‚funkeln; vor Augen flimmern‘. Das i geht auf die idg. Nullstufe (*ir < *) zurück. Ein ähnliches Vokalverhältnis 'ū̃ ~ ī̃ ist im Verbpaar lit. žiūrė́ti : žiū̃ri ~ žiū̃ria ~ žiū̃ra ~ žiū́ro : žiūrė́jo ‚sehen, hinsehen; schauen‘, lett. žũrê|t : - : -ja ‚lauern, blinzeln; ohne Flamme brennen‘ ~ lit. žyrė́ti : žỹri ~ žỹra : -ė́jo ‚glänzen‘, lett. žĩrê|t : - : -ja ‚schwach brennen‘ zu sehen. Dieses Paar ist trotz der jüngeren, ostbaltischen Dehnstufe älter, was dessen ungedehnt erhaltene slawische Entsprechung altkirchslawisches зьр|ѣти : -итъ ‚sehen, hinsehen; schauen‘ beweist: das slawische Präsens зьритъ (< ursl. *zirej) entspricht dem litauischen žỹri. Lett., lettgall. ž- (statt †z) erklärt sich aus Kontamination von *žīrêt mit dem palatal dissimilierten žūrêt.
Die Bedeutung ‚strahlen, funkeln‘ ist in der slawischen Sippe nicht belegt, im Litauischen dagegen in Ableitungen mit alten idg. e-, - und o-Stufen vertreten und erweist sich damit als älter als ‚sehen‘. Im LIV: 177 wird uridg. *ǵher- ‚strahlen, scheinen; sehen‘ rekonstruiert, obwohl die bekannte Verbreitung sich auf das Baltoslawische beschränkt. Junttila (2020: 163) erklärt *ǵher- als eine affektive Variante des weitverbreiteten *gwhor- (LIV 219–20 ‚warm werden‘); hier kann die Expressivität die Palatalisierung ausgelöst haben.
Das nordbaltische Präsens *žẹrei-, die Entsprechung von lit. žỹri u. ursl. *zirej-, ist ins Mittelurfinnische mit Hilfe des Kontinuativsuffixes *-jE- als *šere-je- (o. *šeri-je-) ‚beachten‘ entlehnt. Das Stammverb begegnet uns als südestn. herriq : herimä (in verneinenden Kontexten) ‚beachten, stören lassen‘ nur im Kirchspiel Neuhausen (Vahtsõliina), aber dessen Kausativableitungen, finn. (ingr., karel., wot., estn.) herittää und heristää ‚(mit Faust) drohen‘, wohl < ‚Faust zeigen, (durch Drohung) zu beachten zwingen‘ kommen in einem ganz anderen, größeren Gebiet vor (s. weiter Holopainen & Junttila 2022: 117).
Eine Ableitung aus murfi. *šere-je- ist wahrscheinlich auch das inchoative finn. herätä: Präs. herää- (alte Schriftspr., dial. heräitä: Präs. heräjä-), estn. ärgata : `ärkama (alte Schriftspr. errada : erra-) ‚erwachen‘ (< murfi. *šeräjtä-). Weitere Entsprechungen, weps. heraštuda und südestn. herä(ne)däq : heränemä id., weisen inchoative oder translative Suffixe statt *-tA- auf. Hierzu gehört auch estn. erata : `ergama ‚leuchten, glänzen; flackern, lodern, glühen, abstrahlen; (stechend) schmerzen; blicken, schauen‘: Das einzelne -g- in der Flexion erklärt sich als sekundäre starke Stufe, die oft in solchen Stämmen entstanden ist, wo die Phonotaktik -g- nach einem Konsonanten erlaubt (salata : `salgama, vihata : `vihkama usw.) (s. weiter Holopainen & Junttila 2022: 103–105).
Das estnische Adjektiv ergas ~ erk ~ ärgas ~ ärk ‚klar, hell; heiß; lebendig, munter‘ hat seinen Geminataklusil (*-kk- : *-k̆k-) > -k- : -g- auf ärgata übertragen. Diese Formen sind durch einen weit verbreiteten Suffixwechsel -EtA ~ -kkA(s) (Hallap 1983, Rauhala 2011: 78) entstandene Varianten des gleichbedeutenden estn. ere, südestn. herre < murfi. *šer-etä. Das Adjektiv ist aus dem Urfinnischen sogar ins Saamische (Nordsaamisch (Julev, Aanaar) šearrat ‚hell (Farbe, Licht), lichtstark; klar‘) entlehnt worden, bevor es überall außer im Estnischen und Südestnischen (in diesen Bedeutungen) verschwunden ist.
Murfi. *šer-etä kann als Ableitung zum Verb *šeräjtä- erklärt werden, aber eine direkte Entlehnung aus nordbalt. *žẹr-(j-) ist auch möglich, vgl. lit. žirùs ‚schimmernd, glänzend‘ u. žiūrùs ‚gern schauend; scharfsichtig, gut sehend; schielend; klar [Wetter]‘, die zu žiūrė́ti gehören. Das Adjektivsuffix -EtA war schon im Mittelurfinnischen so verbreitet, dass es in Entlehnungen verschiedene baltische Adjektivbildungselemente substituiert hat.
Lett. žūrêt ‚(viel, unzweckmäßig) gießen; Wasser tragen; Bier brauen; schmoren, viel Speise kochen; Teig einrühren; andauern regnen; saufen; ins Bett urinieren; fließen‘ erklärt ME aus žūra ‚schmutziges Wasser, eine trübe Flüssigkeit; eine wässerige, lang gekochte Grütze; halbfertiges Bier; gesäuerte Hafergrütze; Haferbrei; andauerndes Regenwetter, Regenguss; Saufbold; eine Kuh, die viel trinkt; Pisserin; übermäßiges Trinken, Saufen; Jauche, dünnflüssiger Kot‘, das seinerseits aus žaût ‚gießen; stark regnen‘ abgeleitet wäre. Dazu passt aber nicht, dass diesem žūrêt im Lettgallischen žeirât (< *žīrêt) ‚gießend nass machen‘ ohne palatale Dissimilation entspricht. Genauso wie lett. žūrēt ‚lauern; blinzeln; ohne Flamme brennen‘ und žīrêt ‚schwach brennen‘ mit lit. žìrti ‚funkeln; vor Augen flimmern‘ zusammengehören, sind die letztgenannten mit lit. žìrti ‚streuen, umherfliegen; fließen (Tränen)‘ verbunden. Kroonen et al. (2022: 8) erklären dieses aus uridg. *ǵerH- ‚crumble, scatter‘; eine alternative Erklärung wäre ein Bedeutungswandel von ’funkeln’ über ’streuen’ zu ’fließen (Tränen, Schweiß)‘.
Lett. žūra und lit. žiū̃rė ~ žiūrė̃ ~ žiūrà ‚Haferbrei, -grütze; süße Brotteigsuppe; entrahmter Milch; Flüssigkeit; dünnflüssiger Kot‘ sind als Entlehnungen von entweder (LEW, LKŽ) belaruss. жyp, poln. żur ‚Suppe aus Sauerteig‘ o. (SEJL) mittelniedersächsischem sūr ‚Sauer‘, siure ~ sūre ‚Sauerteig‘ erklärt worden. Zum belaruss.–poln. Wort gehören russ. dial. (Smolensk, Twer, Pskow) жур ‚Hafergrütze; Bodensatz (von Hanfbier)‘, ukrain. жур ‚кисла страва з вiвсяного борошна‘ sowie tschech. žour ‚saurer Mehlbrei‘ und žur ‚jídlo polske‘. Das slowenische und zentralsüdslawische žȗr ‚Molke‘ ist wohl von dieser Sippe zu trennen und stammt nach ERHSJ aus dem Lateinischen. Das semantische Spektrum ist aber im Ostbaltischen breiter als im Slawischen. Die Bedeutungen ‚halbfertiges Bier; (gesäuerte) Hafergrütze o. -brei; Brotteigsuppe‘ (sowie lett. žūrêt ‚säuern‘) gehören sicher zusammen mit den russ.–belaruss.–poln. Wörtern, die am ehesten auf eine Entlehnung aus mittelniederdeutschem sūr zurückgehen (vgl. aber REW für eine alternative slawisch-germanische Erklärung). Die mit Nässe und Flüssigkeiten verbundenen Bedeutungen erklären sich dagegen durch eine Ableitung aus der Sippe von lit. žìrti, lettgall. žeirât. Daraus ist auch lett. žurme ‚Feuchtigkeit, Nässe; seifige, schlüpfrige Lauge‘ ohne Dehnstufe abgeleitet.
Finn. hera bedeutet am öftesten ‚Molke‘, in Dialekten aber auch allgemein ‚Flüssigkeit‘, besonders ‚in einem Prozess (Schmelzen, Stocken, Träufeln, Kondensieren, Gären, Verdünnen) entstehende, mit dem früheren Zustand verglichen dünnflüssigere Flüssigkeit‘. Seine einzige ostseefinnische Entsprechung findet das Wort im livischen yra, das nach Kettunen (LW) ‚Geifer (abgesondert aus dem Maule der Böcke und Schweine zur Brunstzeit)‘ bedeutet. Die Bezeichnungen der Johannisbeere im Finnischen, herukka, Südestnischen, hõrak, und Livischen, yra-måŕa, sind Ableitungen von diesem Wort. Johannisbeeren gelten als besonders saftige Beeren. Somit können sowohl murfi. *šera als auch lett. žūra ursprünglich ‚fließende Flüssigkeit‘ bedeutet haben, und das erstgenannte kann als Entlehnung aus nordbalt. *žẹrā (< urbsl. *źirāh) erklärt werden.
Lett. žur̂me ‚Lebenskraft, Mut, Energie‘ erklärt sich als ein Nomen actionis aus žũrêt ‚ohne Flamme brennen‘. Hierher gehören irgendwie auch šùrme ’Kraft’, šurmîgs ’žur̂mîgs’, surme ‚der Saft (des Lebens); der Nutzen, das Gedeihen‘, sùrmȩ̄ts ‚fett fruchtbar (Boden)‘, die über keine Ableitungsbasis mit š- oder s- verfügen. Die Variation der Stimmhaftigkeit des inlautenden Obstruenten ist im Lettischen gewöhnlich und oft mit Expressivität verbunden. Nomina actionis aus ostbaltischen Verben wurden mit *-ma-, *-sma-, *-mē und *-smē gebildet; besonders im Lettischen können die Suffixe mit *a und * nicht genau getrennt werden (Leskien 1891: 426). Die Quellsprache der baltischen Entlehnungen im Urfinnischen hatte vermutlich *žẹrma- ‚Lebenskraft, Mut, Energie‘, das murfi. *šermo > finn. (karel.) hermo ‚Nerv, Nerven; Ader; Sehne; (Tat)kraft; schlaff; jeweils zwei Streben des Schlittens verbindendes Querholz‘, estn. orm ‚Schnur o. Schnurloch im Bauernschuh‘, südestn. orm ~ horm ‚Rute, dünnes Reisig; Granne; dünne Wurzel, Wurzelhaar‘. Andere baltische deverbale *ma-Ableitungen haben mindestens finn. pahmas, rihma, tarmo, vehmas und vehmaro ihren Ausgang gegeben (vgl. Vaba 1994). Die Etymologie setzt jedoch voraus, dass die auftretenden konkreten Bedeutungen als gelegentliche Konkretisierungen der abstrakten ‚Lebenskraft‘ und Folgen von Bestrebungen, die Lebenskraft des Körpers in Nerven, Sehnen bzw. Adern zu lokalisieren, gedeutet werden können; das Querholz des Schlittens würde somit ‚Kraftholz‘ genannt. Die Bedeutung ‚schlaff‘ hat sich wohl aus negativen Kontexten übertragen: die Privativableitung hermoton ’schlaff, schlapp, kraftlos’ hat Entsprechungen im Ishorischen und Karelischen. Das nahestehende finn. hervoton ‚ohnmächtig, gelähmt, schlaff‘ gehört dagegen zu hervota (Präs. herpoa-) ‚erschlaffen, erlahmen, erstarren‘ usw., das am allerwahrscheinlichsten auf eine Entlehnung aus russ. dial. хря́пнуть (perf.) ’sich fallen lassen’, хря́пко ‚spröde, zerbrechlich; schwach, kränklich‘, хри́пать ‚(alters)schwach werden‘ zurückgeht.
Im Prinzip könnte murfi. *šermo auch in einer anderen baltischen Sippe wurzeln: lit. žirbė́ti : žìrba : žirbė́jo ‚glänzen, leuchten, funkeln, blinken; zittern, sich bewegen; (vor den Augen) flimmern‘, (vgl. at|žirbėti ’sich erholen, ermuntern’) und žiurbė́ti : žiùrba : žiurbė́jo ‚glänzen, leuchten, funkeln, blinken; ausschlagen, Knospen treiben, sprießen, sich mit Blättern austreiben, grünend und dicht wachsen; (Quelle) plätschern‘. Zu diesen gehört ein Paar stativer st-Verben: žir̃b|ti : -sta, -a : -o ‚funkeln‘ und žiur̃b|ti : -sta : -o ‚(Wetter) schön, klar sein‘. Im Lettischen haben diese Verben eine Entsprechung in einer abstrahierten Bedeutung: žìrb|t : -st : -a (= at|žìrbt) ‚sich ermuntern, sich nach einer Krankheit erholen, zu Bewusstsein kommen‘ mit einer faktitiven Ableitung žirbinât ‚einen Ohnmächtigen wieder zu sich bringen, beleben, munter, frisch machen‘. Die Variation i ~ u lauert hinter žìrbt, weil lett. ž dem lit. ž nur vor hinteren Vokalen entspricht; vor i wäre z zu erwarten. Zur Semantik vgl. das oben genannte estn. ere usw. ‚klar, hell; heiß; lebendig, munter‘. Der Ursprung dieser žirb- ~ žiurb-Wörter und ihr Verhältnis mit den žir- ~ žiur-Wörtern bleibt jedoch unklar, weil -b- kein bekanntes Ableitungselement ist.
Die litauischen Verben šiùrti : šiū̃ra (~ šiùrsta ~ šiur̃na) : šiùro ‚(Haar) sich sträuben, wirr zu Berge stehen; zerreißen’ und šiùrp- ~ šiur̃p|ti : -sta : -o ‚(Haar) sich sträuben, struppig sein; schaudern’ verhalten sich miteinander wie žiùrti ~ žiū̃rti : žiùrsta ~ žiūra : žiùro und žiur̃b|ti : -sta : -o. Im šiurp-Stamm dominiert Semantik des Schauderns und Erschreckens. Das Adjektiv šiurpùs, seltener šurpùs bedeutet ‚schauerlich, schaurig; rau; behaart od. befiedert; (Wetter) frostig‘. Weitere Ableitungen sind z.B. šiur̃pas, dial. šir̃pas ‚Frösteln, Schaudern; Schauder; Gänsehaut; Fieberfrost‘, šiùrpis ‚Schauder, Gänsehaut‘ und šiur̃pinti ‚sträuben; Schaudern machen, Frösteln hervorrufen‘. Eine schon von Būga erwähnte Verbindung zwischen šiur̃pas und finn. hirvetä ‚wagen; fürchten‘ ist möglich durch Ableitung aus finn. (karel.) hirveä ‚schrecklich‘, in dessen jedoch -p- statt -v- die erwartungsmäßige Substitution des baltischen -p- wäre.
Beide Stämme verfügen über e-stufige Formen: lit. šértis : šẽria : šė́rės ‚haaren, Haare verlieren‘, lett. sẽrtiês : seŗas : sẽrâs id. und lit. šer̃p|ti : -a : - (= šérpetoti) ‚splittern; rau werden; Niednägel bekommen‘, lett. šȩ̄̀rpas ~ šȩ̄̀rpes ‚Schauder, Fieberkälte; plötzliche Angst‘, šȩrpuļi ,Schauder, Grauen‘, šȩ̄rpoņi ‚Zittern, Schauder‘. In den lettischen Dialekten gibt es eine Fülle von Ableitungen mit -m-: šȩrmas ~ šȩ̄̀rmas ~ šȩ̄̀rmalas ~ šȩ̄̀rmulas ~ šermeles ~ šȩrmuļi ~ šȩrmoņi ~ šẽrmes ~ širmuļi ‚Schauder, Grauen‘ und šȩrmulains ‚schaurig, grausig‘. Besonders interessant für die Lehnwortforschung ist lett. širmuļi. Das -u- erklärt sich als Ableitungssuffix, das Adjektive aus Nomina actionis bildet (vgl. lit. nuožmus, aimus, linksmus, Leskien 1981: 421–9), hier also *šir-m-u- ⇐ *šir-ma- ~ -mē. Im Litauischen sind die alten Nomina actionis-Suffixe *ma- und *mē von -imas, wie in šiurpìmas ‚Schaudern, Frösteln‘, ersetzt worden.
Smoczyński (SEJL) leitet den šiurp-Stamm von uridg. *ḱerp- ab, den šiur-Stamm jedoch von einer Interjektion šiur̃. ALEW 2.0. dagegen leitet šiurp- aus šiur- und verbindet das letztere (m.E. ganz richtig) mit deutschem Haar usw. Das seltene, nicht-palatale šurpùs hält Smoczyński für die ursprüngliche Vertretung der Nullstufe und šiurpùs ein Produkt expressiver Palatalisierung. Lit. šir̃pas erwähnt Smoczyński nicht, in dessen Licht sieht palatale Dissimilation širp- ⇒ šiurp- aber wahrscheinlicher aus. Die Ähnlichkeiten in den Bedeutungen sowie der Parallelfall žiurti ~ žiurbti stützen die ALEWsche Annahme einer Ableitung šiurp- ⇐ šiur-. Da ‌p- wie -b- als Suffix unbekannt ist, bleibt eine sekundäre Verbindung jedoch wahrscheinlicher.
Im Nordbaltischen kann *šir-mu- als Ausgangsform der murfi. *širmu > finn. (ingr., karel., wot. estn., südestn., liw.) hirmu ‚Schrecken, Zorn; furchtbar, schrecklich‘ rekonstruiert werden. Ein ähnliches u-stämmiges Lehnwort aus einem baltischen Nomen actionis ist wot. põrmu, estn. põrm ‚Staub, Asche‘ ~ lit. ber̃ti, lett. bẽrt ‚streuen, ausschütten‘; vgl. auch finn. kuhmu ‚Beule‘ ~ lett kuzms id. Das Nordbaltische kann also über ein Nomen actionis-Ableitungssuffix *-mu- verfügt haben.
Urbsl. *i ist in den Lehnwörtern allgemein als i vertreten. Nur zwischen murfi *š- > osfi. h- und Liquida (l, r) kommt e vor: finn. helle, hera, herhiläinen, hermo, herne, herätä, estn. ere. Aus diesen Entlehnungen können nordbaltische Formen mit * aus urbsl. *i rekonstruiert werden: *šẹlti- ~ *šẹlta-, *žẹrā, *šẹrši(l)-, *žẹr(b)ma-, *žẹrniṣ, *žẹrei- und *žẹru-, vgl. lit. šil̃tis o. šil̃tas, žiūrà, širšỹs, (lett. žur̂me,) žìrnis, žiūrė́ti und žirùs o. žiūrùs. Falls wir estn. ere als Ableitung aus herätä oder aus einer Femininum *žẹri- erklären, können wir die beiden sicheren i-Fälle, finn. hirvi und hirmu aus nordbalt. *širwi- (apr. sirwis) und *širmu-, als Ausbleiben des Vokalwandels vor u und w in der zweiten Silbe erklären.
Darüber hinaus haben die nordbaltischen Entsprechungen von lit. šiupùs ‚bröcklig, zerbrechlich‘ und šiùpulis (~ šiupulỹs) ‚Scherbe, Bruchstück‘ möglicherweise Lehnwörter auf *ši- > hi- hinterlassen: finn. hippu, hipale ‚Teilchen, Körnchen, Stückchen‘, südestn. ibel ‚Eisenpulver‘, hipaĺ ~ hipõĺ ~ hipuĺ ‚Fetzen‘. Diese Wörter haben mit aus dem Germanischen stammendem finn. hepene ~ hepenä ~ heven ‚Härchen, Flocke, dünnes bzw. leichtes Kleidungsstück, Franse, Flitter‘ allerlei gegenseitige Wechselwirkung ausgeübt. Die Lehnetymologie setzt voraus, dass die litauischen Wörter alt genug sind, trotz Fehlen von sicheren Entsprechungen. Für lett. županas ‚Fetzen‘ schlägt ME eine mögliche Entlehnung aus poln. żupan ‚Unterkleid‘ vor.
Die direkte Derivationsbasis von šiupùs und šiùpulis (sowie z.B. šiupė́ti ‚zerbröckeln, zerfallen; streuen‘ u. šipė́ti ‚zerbröckeln‘) ist šiùpti ~ šìpti ‚sich abschwächen, spröde werden, schwinden, schrumpfen‘. Aus einer zu šìpti rekonstruierten früheren Bedeutung ‚platzen, bersten‘ erklärt Urbutis (1995) šìpulis (~ šipulỹs), šiùpulis (~ šiupulỹs) ‚Span, Splitter, Stäbchen‘ und šìpinti ‚(Holz) spalten, zerkleinern‘. Die palatal dissimilierte Variante šiùpti bedeutet auch ‚sich spalten, brechen (Haare), ausdünnen (Bart); zu Berge stehen (Haare); faulen (Holz)‘, was ‚platzen, bersten‘ sehr nahe kommt. Daneben steht die Bedeutung ‚stumpf werden‘ von šiùpti, šìpti u. čìpti, was SEJL für primär unter allen drei Varianten hält und aus der Interjektion čipt čipt herleitet. Lit. č́ vor Vordervokalen ist jedoch immer jungen Ursprungs, so dass entweder čìpti als eine sekundäre expressive Variante von šìpti entstanden ist, oder das Verb ‚stumpf werden‘ wirklich aus der Interjektion stammt, wobei die anderen Homonyme älter sind. Urbutis verbindet šìpti mit šieptis ‚Zähne fletschen; austreiben (Knospen, Blätter); sich spalten‘, lett. at|sìept (zuobus) ‚(Zähne) fletschen (< trennen)‘ und weiter mit poln. (ukrain., russ.) siepać ‚zerren, zerreißen, pflücken, ziehen‘. Trotz der ablehnenden Haltung von ALEW 2.0 sehe ich keine Hindernisse für diese Deutung, die aber die Datierung der Ableitungen šiupùs und šiùpulis noch offen für künftige Forschung lässt.
Ich halte den baltischen Ursprung von finn. *heri- (⇒ herätä, hereä, mindestens teilweise auch estn. ere, südestn. herre ‚klar, heiß, lebendig‘), hera und hirmu (wahrscheinlich ⇒ hirve ~ hirveä) für relativ sicher. Das estn. ere, südestn. herre kann auch von direkter Entlehnung herstammen; bei finn. hirve (⇒ hirveä) ist es weniger wahrscheinlich. Die Etymologie von finn. hermo ist wegen unklarer Semantik, die Erklärungen von hippu und hipale wegen unklaren Alters der verglichenen litauischen Wörter problematisch.
Die sicheren Lehnwörter genauso wie die von Zinkevičius und Smoczyński genannten Beispielfälle deuten daraufhin, dass der Wandel *i > u mindestens in einigen Wortsippen schon urostbaltisch ist.

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Julkaistu

2024-10-04